Zwei Jahre Sibirien
1998–2001 habe ich insgesamt 24 Monate in 19 sibirischen Städten gearbeitet und dabei auch ein gutes Stück russischer Lebenswirklichkeit kennengelernt: angefangen vom tagelangen Zugfahren mit und ohne Seekrankheit oder wie man „mit dem Auto fährt“ (per Anhalter, ein alltäglicher Vorgang) über den in jeder neuen Stadt obligatorischen Antrittsbesuch beim ОВИР (polizeiliche Meldebehörde) sowie lose und fehlende Schachtdeckel bis zum Leben im деревьянном доме (Holzhaus ohne fließendes Wasser).
Ich habe das ganze Spektrum protestantischer Kirchen besucht: Baptisten und Pfingstgemeinden, jeweils „registriert“ und „unregistriert“, und auch unabhängige Gemeinden verschiedener Denominationen. Dass man auch den 8. März für das Reich Gottes nutzen kann (an diesem Tag haben Frauen in Russland arbeitsfrei; beliebtes Thema beim Frauenfrühstück: Abigail), wer wo in den Stadtbus einsteigen darf und wie sich der sibirische Sommer und im Winter 40 Grad Kälte anfühlen – es gab so viel zu lernen!
Natürlich habe ich auch bei 15 Grad Kälte auf der Straße ein Eis gegessen (allerdings nur einmal) und oft genug wurde ich bei schönstem Tauwetter auf der Straße angesprochen: „Девушка, одеваете на голову, холодно сегодня – Fräulein, setzen Sie eine Mütze auf, heute ist es kalt!“ (Woran erkennt man in Sibirien einen Ausländer? Richtig: Er weiß nicht, wie man sich gegen die Kälte schützt.) Unvergesslich die Mohnschnecke, die ich bei minus 25 Grad auf dem Markt vom Blech weg kaufte und sofort essen wollte – brrr! Sie war „natürlich tiefgekühlt“ wie alle anderen Lebensmittel auch: streichfestes Speiseöl … Tiefkühlgeflügel im Energiesparmodus.
Den Trick mit Eigelb und Borsäure gegen Kakerlaken habe ich erfolgreich angewendet und verzweifelt die Stadt nach Spiritus abgesucht, um den schwarzen Marker von der Gitarrentasche zu entfernen – ohne Erfolg, denn dazu hätte ich eine ärztliche Verordnung gebraucht. Von Wölfen verfolgt und von комары (fleischfressenden Stechmücken) gebissen zu werden blieb mir erspart und entgegen anderslautenden (vor allem amerikanischen) Gerüchten gehen auf den Straßen sibirischer Städte auch keine Bären um; es weidet höchstens mal eine Kuh am Straßenrand …
Dafür habe ich viele kostbare Menschen kennenlernen dürfen und nebenher auch noch eine Menge Russisch. Слава Богу – Gott sei Dank!
Städte, in denen ich gearbeitet habe:
Nowossibirsk, Iskitim
Belowo, Mariinsk
Zima, Sajansk, Angarsk
Krasnojarsk, Kansk, Zharypowo, Bratsk
Nizhnewartowsk, Strezhewoj, Surgut, Neftejugansk, Nadym
Kurgan, Kyzyl, Mamontowo (Altai-Gebiet)
kurze Aufenthalte in Omsk, Kemerowo, Tomsk, Irkutsk sowie in Moskau, Sergiew Possad und Berditschew (Ukraine, 3 Wochen)